Die Situation in Afghanistan hat sich dramatisch verändert.
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Die ohnehin strauchelnde afghanische Wirtschaft gerät mit der Machtübernahme der Taliban weiter in Bedrängnis. Es sieht so aus, als würde das Land nicht nur den Boden im internationalen Handel verlieren. Auch auf die finanziellen Hilfen aus dem Ausland darf die Regierung nicht mehr hoffen.
Die Wirtschaft Afghanistans ist fragil, das Land ist abhängig von Wirtschaftshilfen. So kann man zusammenfassen, was die Weltbank vor einigen Monaten über Afghanistan geschrieben hat. Einen nennenswerten Privatsektor gibt es nicht, die meisten Menschen arbeiten in der wenig produktiven Landwirtschaft. Staatliche Institutionen, die den Ausbau einer Wirtschaft vorantreiben könnten, gibt es kaum – und wenn konzentriert sich deren Aktivität auf die Ballungszentren um die großen Städte wie Kabul oder Masar-e Scharif. Im Bruttoinlands-Ranking pro Kopf der Weltbank belegte das Land Platz 173 von 190. Das war im Jahr 2020.
Jetzt hat sich die Situation in Afghanistan erneut und vor allem dramatisch verändert. Mit dem Abzug der internationalen Truppen und der Eroberung Kabuls durch die Taliban ist in dem ohnehin schon fragilen Land Chaos ausgebrochen. Menschen versuchen zu fliehen, auf dem Rollfeld des Flughafens der Hauptstadt spielen sich dramatische Szenen ab. Das US-Militär evakuiert seine Leute. Und auch die Bundeswehr ist mit Transportmaschinen vor Ort.
Unter dem offensichtlichen Chaos, das die Flucht der Regierung verursacht hat, zeichnet sich jetzt ab, dass auch die Wirtschaft des Landes weiter in einen Abwärtsstrudel gezogen werden könnte. In der vergangenen Woche stoppten die USA ihre Dollar-Lieferungen an die Zentralbank – seitdem ist die Währung des Landes, der Afghani, in einem Abwärtstrend gefangen. Insgesamt ist der Wert um 1,7 Prozent gegenüber dem US-Dollar gesunken.
Der Chef der Afghanischen Zentralbank, Ajmal Ahmady, hat inzwischen das Land verlassen. Auf Twitter beschreibt er, was sich in den vergangenen Tagen im Land abgespielt hat. "Der Kollaps der Regierung hier in Afghanistan in der vergangenen Woche ging so schnell und es war eine totale Niederlage", schreibt er dort. "Die Lage war verwirrend und schwer zu verstehen." Die Schuld an der Situation gibt er dem ebenfalls geflohenen Präsidenten, der es versäumt habe, für einen geordneten Übergang der Macht von Regierung an die Taliban zu sorgen.
Das wird die Wirtschaft Afghanistans nun weiter in Bedrängnis bringen. 60 Prozent des Staatshaushaltes wurde bisher etwa von Hilfen aus dem Ausland gedeckt. Darauf kann das Land nun nicht mehr hoffen. Außenminister Heiko Maas hatte bereits angekündigt, dass Deutschland im Falle einer Machtübernahme der Taliban dem Land den Geldhahn zudrehen werde: "Wir werden keinen Cent mehr nach Afghanistan geben, wenn die Taliban komplett übernommen haben, die Scharia einführen und dieses Land ein Kalifat wird." Die Ankündigung bestätigte jetzt auch das Entwicklungsministerium. Alle deutschen und internationalen Mitarbeiter der für die staatliche Entwicklungshilfe zuständigen Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hätten sicher das Land verlassen.
Bisher hat allein Deutschland jedes Jahr 430 Millionen Euro an Hilfsgeldern nach Afghanistan geschickt. Und Deutschland ist nicht das einzige Land, das seine Afghanistan-Hilfen stoppen wird, wenn die Taliban ihre Macht über die eroberten Gebiete erneut ausbauen. Auch amerikanische Wirtschaftshilfen werden wohl auf Eis gelegt. Geldreserven, die in den USA eingelagert sind, sollen eingefroren werden. "Rücklagen der Zentralbank in den USA werden den Taliban nicht zur Verfügung gestellt werden", hieß es vonseiten der US-Regierung. Dabei handelt es sich, Stand April dieses Jahrs, um immerhin 9,4 Milliarden Dollar. Das bedeutet: Eine ohnehin schon am Boden liegende Wirtschaft, würde somit auch ihrer wichtigsten Geldzuflüsse beraubt.
Dafür, dass die afghanische Wirtschaft auch vor der Rückeroberung des Landes durch die Taliban nicht aus dem Tal herauskam, in der sie seit Jahrzehnten steckt, sieht die Weltbank mehrere Gründe. Einer ist die Sicherheitslage in dem Land am Hindukusch. 29 Prozent des Bruttoinlandproduktes musste die afghanische Regierung allein dafür aufbringen, Militär und Polizeiapparat zu finanzieren. In Ländern mit einer vergleichbaren Wirtschaftsleistung liegen die Ausgaben im Durchschnitt bei drei Prozent.
Zudem machte die grassierende Korruption für Unternehmen aus dem Ausland den Zugang zum Land schwer. In den vergangenen beiden Jahren soll es keine Versuche ausländischer Unternehmen gegeben haben, in Afghanistan ein Geschäft neu aufzubauen. Seit 2014 sollen es insgesamt vier gewesen sein, heißt es vonseiten der Vereinten Nationen.
Die Regierung in Afghanistan hatte außerdem lange Probleme damit, die reichlich vorhandenen natürlichen Ressourcen des Landes wirtschaftlich zu nutzen. Rohstoffabbau gab es – wenn überhaupt – nur in inoffiziell und illegal betriebenen Minen. Viele Landwirte konzentrieren sich auf den wesentlich rentableren Anbau von Opium. Viele Menschen arbeiten zudem als Schmuggler. Der Opiumanbau ist auch eine der Quellen, aus der sich die Taliban finanziert haben. Laut dem Weltdrogenbericht der Vereinten Nationen produzierte das Land 84 Prozent des weltweit angebauten Opiums. 416 Millionen Dollar soll die Terrorgruppe mit dem Anbau der Droge pro Jahr eingenommen haben.
Jetzt sieht es so aus, als würde das Land auch noch Boden im internationalen Handel verlieren. Viel wurde aus Afghanistan ohnehin nicht in die Welt exportiert – jedenfalls nicht an legalen Waren. Auch die Importe waren überschaubar: Für Waren aus dem Ausland fehlte vielen Afghanen schlicht das Geld. Im vergangenen Jahr lag das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Afghanistan bei rund 70 Millionen Euro. Im Jahr 2019 exportierte das Land waren im Wert von rund 20 Millionen Dollar nach Deutschland. Insgesamt verließen Waren im Wert von rund 6 Milliarden Dollar das Land. Und doch: Es hätte für die Wirtschaft auch Grund zu leichter Hoffnung gegeben.
Autos, Maschinen und Anlagen haben in den vergangenen Jahren immer wieder ihren Weg nach Afghanistan gefunden. Durch internationale Geldgeber finanzierte Infrastrukturprojekte haben immer wieder Unternehmen nach Afghanistan gelockt, die sich allerdings nicht dort niedergelassen haben oder nur für Projekte dort geblieben sind. Mit der Eroberung des Landes durch die Taliban liegen diese Projekte nun auf Eis. Eines ist etwa ein Großauftrag zur Elektrifizierung des Landes, den sich Siemens Energy erst im November gesichert hatte. Ziel war es, das Land zur Energiedrehscheibe Zentralasiens auszubauen, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland schreibt. Außerdem sollte jeder der 37 Millionen Einwohner Afghanistans einen Zugang zu elektrischem Strom bekommen. Zwei Drittel der Afghanen haben bisher keinen Anschluss an das Stromnetz.
Davon, dass sich die Lage für ausländische Unternehmen schnell wieder beruhigt, ist nicht auszugehen. Mit dem Vormarsch der Taliban steigt auch die Sorge um ausländische Mitarbeiter, die sich noch im Land befinden könnten, und um afghanische Ortskräfte, die für die Unternehmen in dem Land tätig sind. Sollte sich die Sicherheitslage im Land nicht nachhaltig verbessern, werden wohl nur wenige Unternehmen Investments in der Region wagen – ein weiterer Tiefschlag für die dortige Wirtschaft.
Für die Märkte in der Region könnte sich die Situation in Afghanistan schnell zu einem wirtschaftlichen Schwelbrand ausweiten. Vor allem die Wirtschaft im Nachbarland Pakistan könnte in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan ist lang und schwer zu kontrollieren. Die Taliban haben die an Afghanistan angrenzenden pakistanischen Regionen in der Vergangenheit immer wieder als Rückzugsgebiete für ihre Kämpfer genutzt. Jetzt könnte das Land dafür international isoliert werden.
Dieser Text ist zuerst bei Capital erschienen.
Quelle: ntv.de

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