Parallel zum Abzug des Personals aus Afghanistan setzen die USA derzeit die Daumenschrauben an – diesmal die finanziellen. Afghanische Auslandskonten werden blockiert und internationale Gelder zurückgehalten, um den Taliban den Zugriff zu verwehren. Damit steht das Land vor einer tiefen Wirtschaftskrise. Mit den Sanktionen machen sich die US-Regierung und ihre Verbündeten einen Umstand zunutze, der gleichzeitig wesentliche Ursache für ihr Scheitern in Afghanistan ist: Nach 20 Jahren »Aufbau« und Milliarden an Zuschüssen verfügt das Land über keine nationale Wirtschaft, die die Bevölkerung oder zumindest eine Regierung ausreichend finanzieren könnte.
Der Aufbau der Wirtschaft war stets Teil der US-Strategie in Afghanistan. Das übergeordnete Ziel dieser Strategie nannte 2011 Präsident Barack Obama: »Es darf keinen Zufluchtsort geben, von dem aus Al-Qaida oder ihre Anhänger Angriffe gegen unser Land oder unsere Verbündeten durchführen können.« Afghanistan müsse dafür »nicht zu einem perfekten Land« werden, so Obama. Ökonomisch gehe es nur darum, die afghanische »Volkswirtschaft in eine zu verwandeln, die zu dauerhaftem Frieden beiträgt«.
Der Ökonomie des Landes war damit eine bestimmte Funktion zugedacht: Sie sollte stark genug sein, um einer Regierung in Kabul die Mittel einzuspielen, mit denen sie den Krieg gegen Feinde der USA selbst finanzieren kann, ohne Hilfe aus dem Ausland. Auch nach dem Abzug der Vereinigten Staaten sollen »die afghanischen Verantwortlichen in der Lage sein, ihre eigenen Einnahmen zu generieren und ihr eigenes Budget zu verwalten«, so der US-Generalinspekteur für den Aufbau des Landes (SIGAR). Kurz gesagt: Afghanistan sollte den Krieg gegen den Terror selbst bezahlen können. Gleichzeitig sollte eine wachsende Wirtschaft die Loyalität der Bevölkerung gegenüber Kabul stärken und den Taliban die Unterstützung entziehen. »Handel und Wachstum sollten die Lücke füllen, die Amerikas Abzug hinterlassen würde«, erklärt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze.
Zu diesem Zweck pumpten die USA Geld nach Afghanistan. Laut SIGAR flossen in 20 Jahren 145 Milliarden Dollar in den Aufbau des Landes. Ein Vielfaches davon – rund 840 Milliarden – ging allerdings in die Kriegsführung, und »selbst der größte Teil der Aufbauhilfe finanzierte Sicherheitsmaßnahmen«, so der Ökonom Jeffrey Sachs.
In der Spitze erreichte der ausländische Geldzufluss 100 Prozent der offiziellen Wirtschaftsleistung Afghanistans. Das Ergebnis las sich zunächst gut: Zwischen 2002 und 2019 verdreifachte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP). »Doch ist das BIP ein statistisches Konstrukt«, erklärt Tooze. »Im Fall Afghanistan verdeckt es die Tatsache, dass dort eine nationale Ökonomie, wie wir sie gemeinhin verstehen, nicht existiert.«
Statt einer integrierten Volkswirtschaft findet sich dort ein Sammelsurium von »Ökonomien«, also von Einkommensquellen, die zum großen Teil voneinander und von der Regierung in Kabul unabhängig sind. »Afghanistans Ökonomie ist fragil, der private Sektor ist extrem eng«, stellt die Weltbank fest. 60 Prozent der Bevölkerung leben von einer Landwirtschaft mit geringer Produktivität, die der Eigenversorgung oder der Belieferung lokaler Märkte dient. Der Rest verteilt sich auf Handwerk und Dienstleistungen, häufig im so genannten informellen Sektor. Hier dominieren kleine Produktionseinheiten mit wenig Kapital, es wird von der Hand in den Mund gewirtschaftet. »In Industrieländern wird mit ausreichendem Kapital Gewinn generiert, der ausreicht, um durch neue Investitionen die Produktivität immer weiter zu erhöhen. Dies findet in der kapitalarmen informellen Ökonomie kaum statt«, schreibt die Zeitschrift iz3w.
Bis heute verfügt das Land über keine nennenswerte Industrie oder Exporte, die Devisen einspielen würden. Mangels Vorkommen an Öl, Gas oder Cash Crops kann die Regierung – anders als in anderen Länder des Globalen Südens – keine Mittel aus dem Rohstoffexport für sich generieren. Der einzig »wettbewerbsfähige« Rohstoff – Opium – ist offiziell verboten. Die Importe Afghanistans wurden daher über Auslandsgelder finanziert, ebenso wie der Staatshaushalt.
Diese Auslandsgelder schoben zwar das BIP an, verteilten sich aber sehr ungleich: 90 Prozent der Afghan*innen leben laut Weltbank heute von weniger als zwei Dollar am Tag. In den Städten dagegen sind Wohlstandsinseln entstanden, deren ökonomische Grundlage die Besatzung des Landes war. »Die Eliten haben das Wachstum für sich monopolisiert«, so Tooze. Während das BIP zwischen 2001 und 2013 rasch wuchs, sei die Agrarproduktion kaum gestiegen.
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Diese Form der Ökonomie bescherte der Regierung in Kabul ein dauerhaftes Legitimitätsproblem: Große Teile der Bevölkerung hatten nichts von den staatlichen Geldern und waren in ihrem wirtschaftlichen Überleben unabhängig von den Gesetzen und Maßnahmen, die in Kabul erlassen wurden. Abhängig war ihr Überleben vielmehr von lokalen Strukturen, die daher auf die Loyalität der Menschen zählen konnten. Statt der Regierung »vertrauten die Menschen lokalen Führern«, so der US-Thinktank Brookings. Den Mangel an Rückhalt versuchte die Regierung in Kabul auszugleichen, indem sie Teile der Auslandsgelder verteilte: Korruption diente ihr nicht nur zur persönlichen Bereicherung, sondern auch zum Kauf von Loyalität zwecks Machterhalt. Laut UN-Berechnungen von 2010 beliefen sich die Bestechungsgelder auf 2,5 Milliarden Dollar jährlich, fast ein Viertel des offiziellen BIP. »Korruption ist nicht bloß ein Problem für das Regierungssystem«, so der afghanische Nationale Sicherheitsberater Rangin Spanta, »sie ist das System.« Und dieses System wurde von der US-Regierung notgedrungen gefüttert, um die Machthaber in Kabul zu stützen.
Dieses Arrangement erlebte seine »Blüte« vor etwa zehn Jahren. Ab dann wuchsen in Washington die Zweifel. Zwar hatten sich soziale Indikatoren Afghanistans verbessert – Lebenserwartung und Bildungsniveau waren gestiegen. Doch, so SIGAR, blieb fraglich, ob diese Fortschritte »dem US-Investment angemessen oder nachhaltig nach einem US-Abzug sind«. Angesichts einer anhaltend schlechten Sicherheitslage kam Washington zu dem Schluss: Es lohnt sich nicht. »Schaut man sich an, was wir ausgeben und was wir dafür bekommen haben, ist es ein Irrsinn«, zitiert SIGAR einen Beamten des Verteidigungsministeriums.
Damit war das Ende des Aufbaus eingeläutet. Schon 2011 legte Obama einen Plan vor, die US-Truppen bis 2014 abzuziehen. Zwar verzögerte sich dieser Abzug noch. Doch drehte der Westen in der Zwischenzeit bereits den Geldhahn zu. Die Hilfszahlungen an Afghanistan halbierten sich laut Weltbank bis 2020. In der Folge schrumpfte das Wirtschaftswachstum drastisch, die soziale Lage verschlechterte sich teilweise. Und mit der Erosion ihrer ökonomischen Grundlage verlor die Regierung in Kabul den Rest ihres Rückhalts in der Bevölkerung, was den Taliban die Eroberung erleichterte. »Nun stellt sich heraus, dass die politische Loyalität nicht der Zentralregierung, sondern lokalen Machthabern, Warlords und anderen Akteuren gilt«, kommentierte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
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Die Schwäche der afghanischen Wirtschaft versuchen die USA und ihre Verbündeten nun abermals für sich nutzbar zu machen – aber nicht als Angebot, sondern als Drohung an die Regierung. Washington hat neun Milliarden Dollar Reserven der afghanischen Zentralbank eingefroren. Der Internationale Währungsfonds hält fast 500 Millionen Dollar zurück, die dieser Tage nach Kabul hätten fließen sollen. Da Importe mit harten Devisen bezahlt werden müssen, »ist die Frage, wer Afghanistans Dollar-Reserven kontrolliert, so zentral«, erklärte Ökonom Tooze. Auch viele nationale Regierungen kündigten an, Hilfszahlungen auszusetzen. Damit steht das Land vor einer Krise, es wird mit einem Rückgang des BIP von bis zu 20 Prozent gerechnet. Berichte aus Kabul sprechen von leeren Geldautomaten, Medikamentenmangel und steigenden Preisen für Nahrungsmittel. Hilfsorganisationen warnen vor einer humanitären Katastrophe.
Die neue Regierung in Kabul muss sich also beugen – oder sie findet neue Geldgeber. Hier hat sich bereits China angemeldet: »Mit dem Abzug der USA kann Peking das bieten, was Afghanistan braucht: politische Neutralität und Investitionen«, schrieb vergangene Woche Zhou Bo, Ex-Offizier der Volksbefreiungsarmee, in der »New York Times«. Darauf reagierte Washington mit einer scharfen Warnung – und ordnete den Fall Afghanistan damit ein in die neue strategische Priorität der USA: den Kampf gegen China.
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