Wissenschafts- und Technologiestandorte wie Kopenhagen kreieren wirtschaftliche Dynamik, die weit über regionale Grenzen hinausgeht.
Kreative Innovationen bringen Wohlstand. Damit das gelingt, muss aber die Politik die EU wirklich stärken.
Gastbeitrag von Paul Hünermund
Deutschland ist ein proeuropäisches Land. 79 Prozent der Deutschen halten laut der Umfrage Eurobarometer eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union für eine gute Sache. Das ist nach Irland, Luxemburg und den Niederlanden immerhin der vierthöchste Wert innerhalb der EU. Trotzdem hat man den Eindruck, dass das deutsche Verhältnis zu Europa mitunter etwas verkopft ist. Im innenpolitischen Diskurs dominieren zwei Narrative, warum der europäische Integrationsprozess für uns so bedeutsam ist: die EU als Garant für Frieden in Europa und als Garant dafür, dass Deutschland im Konzert der Großen weiter eine gewichtige Rolle spielen kann. Leider entfalten beide Erzählungen heutzutage, 64 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, aber nur noch wenig Strahlkraft. Einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland kann sich mittlerweile, zum Glück, kein vernünftiger Mensch mehr vorstellen. Und die Idee einer Großmacht Europa trifft, unabhängig von pragmatischen Überlegungen zugunsten einer engeren Koordination der europäischen Außenpolitik, zu Recht auf Skepsis.
Paul Hünermund ist Assistant Professor am Institut für Strategie und Innovation an der Copenhagen Business School. Zuvor arbeitete er am ZEW in Mannheim und promovierte an der KU Leuven in Belgien.
Dabei hat Europa für sehr viele Menschen ganz lebenspraktische Bedeutung. Die EU ermöglicht Studenten, an den besten ausländischen Universitäten zu studieren – und das in vielen Fällen zum Nulltarif. Arbeitnehmer finden in den benachbarten europäischen Ländern Beschäftigung, die im Heimatland mitunter nur knapp zur Verfügung steht. Die Angleichung rechtlicher Rahmenbedingungen und der Abbau von Eintrittsbarrieren erleichtert jungen Unternehmern den Marktzugang im Ausland. Wissenschaftler profitieren vom Austausch mit den internationalen Kollegen, zum Beispiel in gemeinsamen Verbundprojekten, gefördert durch die Forschungsrahmenprogramme der Europäischen Kommission. Und ein integrierter europäischer Kapitalmarkt legt die Grundlage für eine Finanzierung der besten Ideen und klügsten Köpfe.
Die ökonomische Forschung dokumentiert: Innovationen und die daraus resultierenden Produktivitätssteigerungen treten geografisch stark konzentriert auf. Wissenschafts- und Technologiestandorte wie München, Barcelona, Vilnius, Kopenhagen oder Mailand kreieren eine wirtschaftliche Dynamik, die weit über regionale Grenzen hinausgeht und unabdingbar ist für Wachstum und Wohlstand einer Volkswirtschaft. Wegen dieser konzentrischen Wirkung ist aber ein hohes Maß an Arbeitsmobilität notwendig, damit gut ausgebildete Fachkräfte und die produktivsten Arbeitgeber bestmöglich zusammenfinden können. Dieser Aspekt ist beispielsweise in den Vereinigten Staaten noch wesentlich stärker ausgeprägt als hierzulande. Dort ist es üblich, dass Arbeitnehmer häufiger ihren Wohnort aufgrund besserer Jobangebote über Bundestaatsgrenzen hinweg verlagern, was sich natürlich auch in den zu erzielenden Löhnen widerspiegelt.
Die Ressourcen, über die Europa verfügt, sind dabei für eine moderne, wissensbasierte Ökonomie nicht zu unterschätzen. Kreative Ideen entstehen vor allem dann am wahrscheinlichsten, wenn Menschen mit verschiedenen Hintergründen, Erfahrungen und Blickwinkeln aufeinandertreffen. Europa weist eine Vielzahl von urbanen Zentren auf, mit ganz unterschiedlichen, historisch gewachsenen politischen und pädagogischen Institutionen. Das Motto der Europäischen Union lautet „in Vielfalt geeint“. Wenn es Europa gelingt, seine enorme intellektuelle und kulturelle Diversität in Zukunft noch stärker zu mobilisieren, wäre das ein gewaltiger Standortvorteil, auch gegenüber den USA und China.
Blick in die Universität Mailand: Wegen Corona ist es dort derzeit leerer als sonst. Wissen wird dort trotzdem produziert.
Von der Utopie eines grenzenlosen Wirtschafts- und Arbeitsraums ist die Europäische Union jedoch noch weit entfernt. Sprachbarrieren und die weiterhin nur schleppende Internationalisierung von Unternehmen und Verwaltungen machen es Arbeitnehmern schwer, geeignete Jobangebote im Ausland anzunehmen. Es fehlt ein einheitliches System zur Finanzierung von Studienplätzen, was zu ineffizienten Quotenregelungen führt, da inländische Steuerzahler häufig nur wenig Interesse daran zeigen, für internationale Studenten aufzukommen. Wenn die heutige Generation von Expats irgendwann einmal in Rente geht, wird sie sich mühsam ihre Pensionsansprüche in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sozial- und Steuersystemen zusammensuchen müssen. Auch für junge Unternehmen bleibt die Expansion ins europäische Ausland weiterhin mit enormen Kosten verbunden, was Wachstumspotenziale und die Skalierbarkeit von innovativen Geschäftsmodellen mindert. Den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch mangelnde Kooperation über Ländergrenzen hinweg und fehlende Konzepte für den gemeinsamen Gesundheitsschutz entsteht, hat dabei nicht zuletzt die Corona-Pandemie aufgezeigt.
Abgesehen von den üblichen Sonntagsreden sind europapolitische Themen in der innerdeutschen Debatte erstaunlich wenig repräsentiert. Auch im derzeitigen Wahlkampf scheint die Frage, wie wir uns die Zukunft der Europäischen Union vorstellen, wieder einmal nur ein Randthema zu sein. Dabei ist Europa schon längst Alltag für viele Deutsche geworden. Für diese Menschen ist die europäische Integration kein abstrakter polithistorischer Prozess.
Die konkreten Weichenstellungen der Politik entscheiden dabei maßgeblich darüber, wie sich die für Wachstum und Innovation so wichtige Mobilität von Arbeitnehmern, Erfindern und Wissenschaftlern innerhalb der EU in den nächsten Jahren entwickeln wird. Europa wird zunehmend die Quelle unseres Wohlstands werden. Wer das nicht verstanden hat, bereitet das Land nicht ausreichend auf die Zukunft vor.
Diesen Wohlstand gibt es allerdings nicht umsonst. Eine immer engere politische Union geht unweigerlich mit der Übertragung von Souveränitätsrechten einher. Soll das europäische Parlament echten Handlungsspielraum besitzen, dann muss es auch mit einer entsprechenden Steuerhoheit ausgestattet sein. Eine Geldpolitik, die in Frankfurt für die gesamte Euro-Zone entschieden wird, kann nicht nur deutsche Interessen im Blick haben. Und Transferzahlungen zwischen Regionen mit unterschiedlicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sind in einem gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftsraum unumgänglich. Den europäischen Integrationsprozess voranzutreiben, ist kein leichtes Unterfangen und erfordert einiges an Geduld und zähem Verhandeln. Kleine Schritte sind erlaubt, solange sie kontinuierlich erfolgen. Die EU nur rhetorisch zu schätzen, aber nicht praktisch zu stärken, kann jedoch nicht die Devise in der Europapolitik sein.
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