Tesla-Baustelle in Grünheide: Letzte große Reform liegt fast zwei Jahrzehnte zurück
Wenn die Konjunktur nicht richtig läuft, dann liegt das üblicherweise daran, dass zu wenig Geld ausgegeben wird. Unternehmen investieren weniger, weil sich die Geschäftsaussichten eintrüben. Die Bürger geben weniger Geld aus, weil sie aus Vorsicht etwas mehr sparen. Aus dem Ausland kommen weniger Aufträge, sodass die Exporte zurückgehen.
Institut für Journalistik, TU Dortmund
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.
Die Wirtschaftspolitik kann mit solchen Einbrüchen der Nachfrage routiniert umgehen. Der Staat kann die Situation stabilisieren, indem er auf Pump Geld ausgibt; Notenbanken halten die Zinsen niedrig und schießen flüssige Mittel in die Märkte. Zuletzt haben die großen Volkswirtschaften ihre konjunkturpolitische Handlungsfähigkeit in der Coronakrise voriges Jahr eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Nun aber stehen wir vor einer neuen Situation. Die Wirtschaft wächst zwar nach wie vor enttäuschend langsam, zuletzt mit 1,5 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Nach einem Rückgang im ersten Quartal 2021 und einem herben Einbruch im Coronajahr 2020 insgesamt ist das ziemlich wenig. (Achten Sie Dienstag auf neue Wachstumszahlen für die EU und die Eurozone.) Aber die lahme Dynamik ist dieses Mal nicht die Folge einer schwachen Nachfrage von Bürgern und Unternehmen im In- und Ausland – sie hat andere Gründe.
Von Kaufzurückhaltung kann tatsächlich keine Rede sein: Die deutschen Exporte steigen; inzwischen liegen sie wieder über dem Vor-Corona-Niveau von Februar 2020. Die Stimmung in den Unternehmen ist gut – besser als vor dem Corona-Schock, wie das Ifo-Institut ermittelt hat.
Bei den Industrieunternehmen gehen immer mehr Aufträge ein. Im Juni lag der Wert 4,1 Prozent höher als im Mai. Gerade die Inlandsnachfrage zieht an, vor allem weil Firmen Investitionsgüter ordern, so das Statistische Bundesamt.
Auch die Bürger sind willens, Anschaffungen zu tätigen. Der GfK-Konsumklimaindex liegt im langfristigen Vergleich auf einem »überaus hohen Niveau«, auch wenn er zuletzt stagnierte.
Eigentlich müsste sich die deutsche Wirtschaft in einem robusten Aufschwung befinden. An Nachfrage herrscht jedenfalls kein Mangel.
Natürlich, es gibt verschiedene Faktoren, die für Unsicherheit sorgen: die Delta-Variante des Coronavirus und die wieder ansteigenden Fallzahlen; der verschärfte wirtschaftspolitische Kurs in China, einem der wichtigsten Handelspartner Deutschlands, wo eine Branche nach der anderen auf KP-gerechten Kurs gezwungen wird; die Unklarheit über den Ausgang der Bundestagswahlen im September; der beschleunigte Klimawandel, der weitere emissionsreduzierende Maßnahmen erfordern wird.
All das verhindert, dass sich die Wirtschaft in eine Euphorie hineinsteigert. Aber für anständiges Wirtschaftswachstum sollte es angesichts der Datenlage doch reichen. Dennoch lag im deutschen produzierenden Gewerbe der Output im Juni immer noch um 6,8 Prozent unter Vor-Corona-Niveau – trotz hoher Nachfrage. Wo also hakt es?
Das Grundproblem der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung besteht derzeit darin, dass die Wirtschaft nicht so viel anbieten kann wie nachgefragt wird. Rohstoffe, Vorprodukte, Arbeitskräfte – Knappheiten treten an Gliedern in den Produktionsketten auf, wo das früher kaum vorstellbar gewesen wäre.
Der Chipmangel begrenzt die Autoproduktion. Auf dem Bau sind Lieferprobleme an der Tagesordnung. In Umfragen melden drei Viertel der Großhändler Engpässe bei Holz und anderen Baustoffen. Bei Metall- und Kunststoffwaren berichteten sogar mehr als 90 Prozent der befragten Firmen von Lieferschwierigkeiten.
Auch Mitarbeiter sind schwer zu finden. In der Industrie klagt laut einer Ifo-Umfrage ein Viertel der Firmen über einen Mangel an Fachkräften, im Einzelhandel ist es ein Drittel der befragten Unternehmen, bei Hotels und Speditionen die Hälfte, bei Zeitarbeitsfirmen sind es gar drei Viertel. 744.000 unbesetzte Stellen gibt es derzeit in Deutschland, so viele wie vor der Coronapandemie – Tendenz steigend.
Womöglich hat die Coronakrise eine Trendwende auf den Arbeitsmärkten angestoßen. Die Zeitschrift »The Economist« rechnet in ihrer aktuellen Ausgabe vor, dass sich in großen westlichen Volkswirtschaften, darunter in Deutschland, drei Prozent der Beschäftigten im Zuge der Pandemie aus dem Arbeitsmarkt verabschiedet haben. Denkbar, dass einige ältere Beschäftigte vorzeitig in den Ruhestand gegangen sind, dass manch Werktätiger das Corona-Ansteckungsrisiko in kontaktnahen Dienstleistungen für unvertretbar hoch hält, dass dauerhaft weniger Zuwanderer kommen, die im vergangenen Jahrzehnt den personalintensiven deutschen Aufschwung getrieben haben, dass die seit Langem vorhergesagte demografische Wende nun unmittelbar im Anschluss an die Coronakrise ihre volle Wirkung entfaltet, dass einige der immer noch gut zwei Millionen Kurzarbeiter in Firmen beschäftigt sind, die auf Dauer nicht tragfähig sind. All das ist gegenwärtig noch unklar.
Die entscheidende Frage aber ist, ob die derzeitigen Engpässe vorübergehender Natur sind – oder ob wir es mit einem Strukturbruch zu tun haben, den wir bislang nur schemenhaft erkennen können. Ein Teil der Lieferengpässe mag sich in den kommenden Monaten auflösen, wenn die coronabedingten Produktionsausfälle aufgeholt sind. Ein Teil der Kurzarbeiter und Arbeitslosen mag neue Jobs in zukunftsträchtigen Unternehmen finden.
Mit traditioneller Konjunkturpolitik lässt sich in der gegenwärtigen Lage jedenfalls nicht viel ausrichten. Sollten die derzeitigen Verspannungen anhalten, wäre es die falsche Strategie, auf schwaches Wachstum mit immer mehr Staatsgeld zu antworten.
Der Fokus verschiebt sich zusehends zur Angebotsseite der Volkswirtschaft. Das ist keine Frage von Ideologie, sondern von ökonomischen Erfordernissen. Statt fortgesetzter Nachfragestimulierung sollte es künftig wieder verstärkt um Strukturreformen gehen. Das trifft nicht nur auf europäische Partnerländer zu, die jetzt Reformprogramme auflegen müssen, um die Mittel aus dem Corona-Aufbaufonds der EU abzurufen; auf die spanische Minderheitsregierung etwa übt die EU-Kommission Druck aus, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren, um mehr Menschen in reguläre Jobs zu bringen. Das trifft auch auf Deutschland zu, wo die letzte größere Reformepisode (»Agenda 2010«) bald zwei Jahrzehnte zurückliegt.
Preisabfragezeitpunkt
07.09.2021 14.28 Uhr
Keine Gewähr
Dabei liegen die großen Herausforderungen auf der Hand: Es ist höchste Zeit, Arbeitsmarkt und Sozialstaat demografiefest zu machen. Wir sind reif für eine Agenda 2030. Kernpunkte: Bildung und Qualifizierung ausbauen (gerade für Langzeitarbeitslose, deren Zahl im Zuge der Pandemie wieder stark gestiegen ist); eine flexible Heraufsetzung des Ruhestandseintritts für diejenigen, die arbeiten können und wollen; eine vorausschauende Zuwanderungs- und Integrationsstrategie; dazu eine stringente Innovationspolitik inklusive einer Öffnung der Kapitalmärkte.
Im Wahlkampf spielen diese Themen kaum eine Rolle. Größere Zukunftsentwürfe fehlen, wenn man von der Klimapolitik absieht. Klar, Strukturreformen sind schwierig zu kommunizieren, sie wirken sich eher lang- als kurzfristig aus und sind deshalb politisch unattraktiv.
Und doch: Sollten angebotsseitige Verbesserungen ausbleiben, droht sich die Inflation zu verfestigen. Zuletzt stiegen die Konsumentenpreise in den USA mit einer Rate von über fünf Prozent, in Deutschland von 3,8 Prozent. Die Zahlen mögen die tatsächliche Preisdynamik wegen des Vergleichs zum Coronakrisenjahr 2020 überzeichnen. Doch auch die Großhandels- oder die Baupreise steigen inzwischen rasch. Sofern eine hohe Nachfrage auf ein eingeschränktes Angebot trifft, ziehen die Preise an – eigentlich sollte das niemanden überraschen.
Brüssel/Warschau – Showdown – Ende der Frist, bis zu der Polen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu Disziplinierungsmaßnahmen des Obersten Gerichts umsetzen soll. Für den Fall, das Polen das Urteil ignoriert, hat die EU-Kommission angekündigt, finanzielle Sanktionen gegen Warschau beantragen zu wollen.
Luxemburg – Europa-Konjunktur – Die EU-Statistikbehörde Eurostat veröffentlicht eine erste Schätzung zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in der EU und der Eurozone im zweiten Quartal 2021.
Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Just Eat, Home Depot, Swiss Life, Fortum, Walmart
Luxemburg – Euro-Inflation – Eurostat veröffentlicht neue Zahlen zur Entwicklung der Konsumentenpreise in der EU.
Washington – Wann steigt die Fed aus? – Veröffentlichung der Protokolle der letzten Sitzung des Offenmarktausschusses der US-Notenbank Fed. Die große Frage ist, ob und in welcher Form die Gouverneure beraten haben, die Wertpapierkäufe zurückzufahren (»Tapering«).
Brüssel – Dringlichkeitssitzung – Die EU-Innenminister beraten über die Einschleusung von Flüchtlingen, mit denen die weißrussische Führung versucht, das EU-Land Litauen zu destabilisieren.
Frankfurt – die weiteren Aussichten – Der Chemieverband VCI berichtet über die Lage der Branche.
Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Target, Cisco, Carlsberg
Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Hella, BayernLB, Macy’s
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels war der Vergleichszeitraum des Wirtschaftswachstums im zweiten Quartal falsch angegeben. Es handelt sich dabei um das Vorquartal. Wir haben den Fehler korrigiert.
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