Mitte September: Jetzt haben die „Herbstprognosen“ der Wirtschaftsforschungsinstitute „Konjunktur“. In der letzten Woche veröffentlichten das Berliner DIW, das Essener RWI und das Hallenser IWH neue Prognosen für die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland und weltweit. Auch die Konjunkturentwicklung in Russland fand in ihren Analysen Beachtung. Am Mittwoch legen das Kieler IfW und das Münchner ifo Institut ihre neuen Prognosen vor.
Die bisher von den Instituten veröffentlichten Prognosen für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft sind nur 3 1/2 Monate vor Jahresschluss erstaunlich unterschiedlich ausgefallen. Das DIW senkte seine Prognose und erwartet 2021 in Russland jetzt nur noch 2,2 Prozent Wirtschaftswachstum. Das IWH hob hingegen seine Wachstumsprognose sehr stark auf 5,8 Prozent an. Eine mittlere Position zwischen diesen Extremen vertritt das RWI. Seine Wachstumsprognose von 4.0 Prozent deckt sich weitgehend mit den Ergebnissen von Konjunkturumfragen bei Analysten und der neuen Prognose des Forschungsinstituts der finnischen Zentralbank BOFIT (+ 3,7 Prozent).
BOFIT analysierte auch die langfristige Entwicklung des privaten und öffentlichen Verbrauchs und der Investitionen. Es stellte fest: Die gesamtwirtschaftliche Produktion ist in Russland zwar wieder auf dem Vorkrisenniveau, Verbrauch und Investitionen wird es erst im Verlauf des Jahres 2022 erreichen.
Besonders überraschend dürfte für viele die neue Wachstumsprognose des Berliner Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sein. Das DIW erwartet in diesem Jahr in Russland nur noch einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 2,2 Prozent.
Bei dieser Prognose geht das Institut allerdings davon aus, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 nur um 2,5 Prozent gesunken ist. Laut Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat betrug der Rückgang aber 3,0 Prozent (siehe auch BOFIT Russia Statistics und Russische Zentralbank).
Vor einem halben Jahr hatte das DIW für Russland noch ein Wirtschaftswachstum von 2,9 Prozent für 2021 prognostiziert. Das entsprach Mitte März weitgehend dem Durchschnitt der Erwartungen von Banken und Instituten. Die große Mehrheit der Beobachter hat ihre Wachstumsprognosen für Russland inzwischen um rund einen Prozentpunkt auf rund 4 Prozent angehoben. In der jüngsten Umfrage der russischen Zentralbank ergab sich zum Beispiel Anfang September für Russlands diesjähriges Wirtschaftswachstum ein „Konsens“ von 4,2 Prozent. Diesen Produktionsanstieg erwartet auch das russische Wirtschaftsministerium.
Das DIW weist darauf hin, dass der Einkaufsmanagerindex im Verarbeitenden Gewerbe seit Juni unter die Expansionsschwelle gesunken ist. Hierzu hätten geringere Auftragseingänge, auch aus dem Ausland, beigetragen. Der Konsum dürfte nach Einschätzung des DIW die russische Wirtschaft im weiteren Verlauf stützen, sich aber „nicht dynamisch“ entwickeln. Die Einzelhandelsumsätze hätten zuletzt stagniert.
Berücksichtigen muss man bei der niedrigen Prognose des DIW für das diesjährige Wachstum, dass das Institut im nächsten Jahr mit einer Beschleunigung des Wachstums auf 3,0 Prozent rechnet. In der Umfrage der russischen Zentralbank bei russischen und internationalen Banken und Instituten wird hingegen für 2022 ein Rückgang der Wachstumsrate auf 2,4 Prozent erwartet. Während das DIW für 2021 also mit einem um 2 Prozentpunkte niedrigeren Wachstum (+ 2,2 Prozent) rechnet als der „Konsens“ in der Zentralbank-Umfrage (+ 4,2 Prozent), erwartet das DIW im nächsten Jahr mit + 3,0 Prozent ein um 0,6 Prozentpunkte stärkeres Wachstum als die Zentralbank-Umfrage (+ 2,4 Prozent).
Im Gegensatz zum DIW hat das „IWH –Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung Halle“ seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft stark angehoben. Schon vor einem halben Jahr erwartete das IWH für Russland mit 3,3 Prozent ein merklich stärkeres Wachstum als das DIW, das RWI und das IfW. Laut Tabelle A1 auf Seite 79 seiner neuen Herbstprognose hebt das IWH seine diesjährige Wachstumsprognose für Russland jetzt auf + 5,8 Prozent an. Auch für das nächste Jahr erwartet es mit + 3,5 Prozent noch ein merklich stärkeres Wachstum als das DIW (+ 3,0 Prozent).
Anders als das DIW hebt auch das Essener „RWI – Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung“ seine Wachstumsprognose an, aber bei weitem nicht so stark wie das IWH. Das RWI erwartet jetzt für 2021 in Russland einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 4,0 Prozent. Im Frühjahr hatte es nur einen Anstieg von 2,5 Prozent für erreichbar gehalten.
In den nächsten beiden Jahren dürfte sich das Wachstum nach Einschätzung des RWI auf + 2,8 Prozent und + 2,3 Prozent abschwächen. BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, erwartet eine ganz ähnliche Entwicklung.
Wachstumsprognosen 2021 bis 2023
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Zur Erklärung der diesjährigen Erholung der Produktion der russischen Wirtschaft vom Rückgang im Jahr 2020 weist das RWI vor allem auf das Wachstum des privaten Verbrauchs und der Ausfuhr hin:
„Stützend wirkte die Erholung des privaten Konsums, wobei der Zuwachs der verfügbaren Einkommen und der Verbraucherkredite sowie die allmähliche Rücknahme der Spartätigkeit der Haushalte als Hauptwachstumstreiber fungierten.
Die Wiederbelebung der Exporte infolge einer starken globalen Rohstoffnachfrage stützte die positive Dynamik der Industrieproduktion, die in der ersten Hälfte dieses Jahres bereits oberhalb des Vorkrisenniveaus lag.
Dabei verzeichnete die russische Wirtschaft sowohl einen positiven Mengen- als auch einen positiven Preiseffekt. Mengenmäßig expandierte die Produktion von Erdgas, Kohle, Düngemitteln, Rohholz und einer Reihe von Metallen erheblich, zugleich stiegen die Weltmarktpreise für Rohstoffe und Rohöl im zweiten Quartal zum Teil deutlich.“
Zu den künftigen Wachstumsbeiträgen von privatem Verbrauch, Investitionen und Ausfuhren schreibt das RWI:
„Der private Konsum dürfte sich im Prognosezeitraum weiter erholen, gestützt durch steigende Löhne, eine verbesserte Arbeitsmarktlage und ein rasch zunehmendes Volumen an Verbraucherkrediten.
Auch umfangreiche Investitionen seitens staatlicher Unternehmen, deren Implementierung infolge der Corona-Krise verzögert wurde, stützen die Konjunktur.
Die Exporte erhalten durch die kräftige globale Nachfrage nach Rohstoffen, die Ausweitung der Öl-Fördermenge und das Auslaufen des OPEC+-Produktionsabkommens im nächsten Jahr zusätzliche Impulse.“
Als „Risikofaktor“ verweist das RWI auf die weitere Entwicklung der Pandemie: Die Ausbreitung der Delta-Variante von SARS-CoV-2 sowie die geringe Impfquote könnten das Wachstum bremsen.
Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank erwartet bis 2023 eine ähnliche Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion wie das RWI. BOFIT nennt in seiner „Herbstprognose“ für die russische Wirtschaft folgende Faktoren, die dem Wachstum der russischen Wirtschaft Impulse geben:
BOFIT erwartet jetzt, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion nach dem Rückgang um 3 Prozent im Jahr 2020 in diesem Jahr um 3,7 Prozent wächst – trotz anhaltender Behinderungen der Produktionsaktivitäten durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Damit braucht Russlands Wirtschaft laut BOFIT weniger als ein Jahr, um den Produktionsrückschlag des Jahres 2020 aufzuholen. BOFIT stellt fest, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt bereits im ersten Halbjahr 2021 etwas höher war als im ersten Halbjahr 2019 (vor der Pandemie und dem Einbruch der Ölpreise).
In seiner letzten Russland-Prognose vor einem halben Jahr hatte BOFIT für 2021 nur mit einem Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 2,7 Prozent gerechnet. BOFIT hebt seine Prognose also um einen Prozentpunkt an, während das RWI jetzt 1,5 Prozentpunkte mehr Wachstum erwartet.
Die folgende BOFIT-Tabelle zeigt, wie sich die gesamtwirtschaftliche Produktion, Verbrauch und Investitionen sowie Aus- und Einfuhr bis 2023 entwickeln dürften. Im Corona-Krisenjahr 2020 ist der gesamtwirtschaftliche Verbrauch (privater Verbrauch und Staatsverbrauch) um 5,2 Prozent gesunken. Die Anlageinvestitionen nahmen etwas weniger ab (- 4,3 Prozent).
2021 werden sowohl der gesamte Verbrauch als auch die Anlageinvestitionen ihr Vorkrisenniveau laut BOFIT noch nicht wieder errreichen (anders als das BIP). Der Verbrauch steigt voraussichtlich um 3,5 Prozent, die Anlageinvestitionen um 3,0 Prozent. Das Niveau des Jahres 2019 werden der Verbrauch und die Anlageinvestitionen erst im Verlauf des Jahres 2022 überschreiten.
Wirtschaftswachstum und Ölpreis
Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Welchen „Aufholbedarf“ der private Verbrauch und die Anlageinvestitionen derzeit noch haben, signalisiert auch die folgende BOFIT-Abbildung zur langfristigen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Komponenten von Angebot und Nachfrage. Die linke Seite der Abbildung zeigt, dass der Index der Summe der 4 letzten Vierteljahreswerte des Bruttoinlandsprodukts (GDP) im zweiten Quartal 2021 bereits wieder etwas höher war als ein Jahr zuvor.
Für die Importe, die Exporte, den privaten und öffentlichen Verbrauch sowie die Anlageinvestitionen zeigt die Abbildung nur Werte bis einschließlich des ersten Quartals 2021 (Über die Verwendung des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2021 wird Rosstat am 01. Oktober erste Berechnungen veröffentlichen).
Vierteljährliche Entwicklung von Angebots- und Nachfragekomponenten (Indizes der preisbereinigten Werte der Summe der jeweils 4 letzten Quartale; 2011=100)
Der scharfe Rückgang des privaten Verbrauchs im Corona-Krisenjahr 2020 wird auf der rechten Seite der Abbildung sichtbar (rote Linie). Im Jahresvergleich war der private Verbrauch 2020 laut Rosstat um 8,4 Prozent niedriger als 2019. Der von BOFIT in der Abbildung dargestellte Index der Entwicklung der Summe des privaten Verbrauchs in den letzten 4 Quartalen ist noch im ersten Quartal 2021 etwas gesunken. Er fiel fast auf das Niveau am Ende der letzten Konjunkturkrise Ende 2016.
Die Anlageinvestitionen (grüne Linie) sind im Verlauf des Jahres 2020 weniger stark als der private Verbrauch gesunken. Der öffentliche Verbrauch (graue Linie) stieg hingegen im Verlauf des Krisenjahres 2020 weiter an, auch weil die Regierung die öffentlichen Ausgaben zur Stabilisierung der Konjunktur erhöhte.
Der private Verbrauch wird nach Einschätzung von BOFIT angesichts des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, der zunehmenden Beschäftigtenzahlen und höherer Haushaltseinkommen 2021 zunehmen. Am Ende des Prognosezeitraums im Jahr 2023 wird er voraussichtlich seinen bisherigen Höchststand im Jahr 2014 etwas übertreffen.
Wachstumsimpulse erhält der private Verbrauch von den beschlossenen Rentenerhöhungen und vorübergehend auch von den 2021 erfolgten Einmal-Zahlungen. Eine Konsumbelebung ist auch zu erwarten, weil die Haushalte in der Corona-Krise angesammelte Ersparnisse ausgeben dürften. Im Hinblick auf die Entwicklung des öffentlichen Verbrauchs meint BOFIT: Die russische Finanzpolitik wird an ihrem Ziel festhalten, das Haushaltsdefizit abzubauen. Steigende Haushaltseinnahmen werden das Defizit reduzieren und Möglichkeiten schaffen, die vorgesehenen Ausgabeneinsparungen zu lockern.
Das Wachstum der Investitionen wird zunächst gedämpft, weil die Kapazitätsauslastung in der Industrie noch sehr gering ist. Andererseits plant die Regierung, in den kommenden Jahren für ausgewählte Investitionsvorhaben Kredite aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds bereitzustellen, was für steigende Investitionen sorgen dürfte.
Die Entwicklung der russischen Exporte wird vom beschleunigten Wachstum der Weltwirtschaft profitieren. Mit der Lockerung der Begrenzung der Ölförderung im Rahmen der Abkommen mit der OPEC+ haben sich die Wachstumsmöglichkeiten für Russlands Ölexporte und auch für seine Erdgasexporte verbessert.
Russlands Einnahmen durch Ausgaben ausländischer Touristen dürften sich im späteren Teil des Prognosezeitraums auch verbessern. Die Importe nach Russland werden mit dem Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion zunehmen. Insbesondere die Erholung des russischen Auslandstourismus wird zum Wachstum der Dienstleistungsimporte beitragen. Russlands Leistungsbilanz dürfte im Prognosezeitraum aber weiterhin einen erheblichen Überschuss aufweisen.
Die russische Zentralbank illustriert die bisher erreichte Erholung wichtiger Zweige der russischen Wirtschaft in ihrer in der letzten Woche aktualisierten Präsentation für Investoren mit zwei Abbildungen. Sie zeigen, wie sich die Produktion wichtiger Branchen im Vergleich Juli 2021 gegenüber dem Vorkrisenstand im Dezember 2019 verändert hat. Wo besteht noch „Aufholbedarf“?
Der von der Zentralbank berechnete „Basic Output Indicator“ war im Juli 2021 3,5 Prozent höher als im Dezember 2019 (rote Linie, linke Skala).
Entwicklung der saisonbereinigten Produktion in Basisbranchen
Veränderungen gegenüber Dezember 2019 in Prozent
Die Entwicklung des „Basic output indicator“ ist auch in der folgenden Abbildung verzeichnet. Das Chart informiert außerdem zum einen über die Produktionsentwicklung in den konsumnahen Bereichen
Zum anderen verzeichnet die Abbildung die Produktionszuwächse in den investitionsnahen Bereichen
Entwicklung der saisonbereinigten Produktion in Basisbranchen
Veränderungen gegenüber Dezember 2019 in Prozent
Erste Daten zur Entwicklung der Verwendungsbereiche des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2021 veröffentlicht Rosstat am 01. Oktober. Die Zentralbank schätzt den Anstieg der Anlageinestititonen im zweiten Quartal 2021 gegenüber dem „Krisenquartal“ im Frühling des Vorjahres aber auf 11 Prozent (roter Punkt in der folgenden Abbildung).
Für diese Schätzung verwendet die Zentralbank unter anderem die Entwicklung der Transporte von Baumaterial per Eisenbahn (graue Linie), die Entwicklung der Produktion von Investitionsgütern (blaue Linie) und die Entwicklung der Einfuhren von Maschinen und Ausrüstungen aus Ländern außerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (gelbe Linie, rechte Skala).
Indikatoren für die Entwicklung der Anlageinvestitioen
Veänderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent; gleitender 3 Monatsdurchschnitt
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu: