Die ökonomischen Aussichten auf die kommenden Jahre sind alles andere als rosig. Covid-19 und seine Bekämpfung droht, schlimme wirtschaftliche Langzeitfolgen zu verursachen. Viele Anzeichen erinnern fatal an die durch Zukunftspessimismus geprägten 1970er-Jahre. Damals provozierte der Schock schnell und stark steigender Ölpreise ebenso rasch und sprunghaft hochschnellende Staatsschulden, anziehende Arbeitslosenzahlen, höhere Preise und schwaches ökonomisches Wachstum.
Seinerzeit wurde für die Kombination von Wachstumsschwäche und Inflation das Kunstwort der Stagflation geschaffen. Es wird in den Tagen der Coronapandemie und deren Bekämpfung gerade aus der Mottenkiste der Wirtschaftsgeschichte hervorgekramt. Verständlicher- und wohl auch richtigerweise. Denn die aktuellen stagflationären Symptome sind unübersehbar.
Zwar hat das von Bundesfinanzminister Olaf Scholz als „Wumms“ etikettierte milliardenschwere Konjunkturpaket seinen Zweck erfüllt. Das Schlimmste ließ sich dank öffentlicher Notrettungsmaßnahmen bis anhin verhindern. Firmen konnten mithilfe von Zuschüssen, Liquiditätsspritzen und günstigen Krediten vor dem Untergang zunächst bewahrt werden. Jobs blieben dank generöser Kurzarbeitsregelungen vorerst erhalten.
Aber wieweit die staatlichen Auffangnetze nachhaltig tragen, wird sich noch zeigen müssen. Es gehört zum traurigen Wesen ökonomischer Krisen, dass eine beträchtliche Anzahl von Unternehmen schlechte Zeiten fürs Erste zwar tapfer durchhalten. Aber sie müssen dafür Reserven aufzehren. Das führt zu einem Verlust finanzieller Substanz. Als Folge fehlen bei einer später einmal beginnenden Trendwende zum Guten in manchen Fällen die finanziellen Mittel für einen erfolgreichen Neustart.
Der Anfang eines gesamtwirtschaftlichen Aufschwungs bewirkt dann das Ende ausgelaugter Unternehmen, die nicht mehr die Kraft haben, ihre alten Geschäftsmodelle neuen Umständen anzupassen. So kommt es schließlich doch noch zu jenen Konkursen, die man zuvor mit öffentlichen Geldern so sehr abwenden wollte. Gut gemeinte Staatshilfe hat dann den Untergang nur hinausgeschoben, jedoch nicht verhindert.
Genauso folgt auch für den Arbeitsmarkt der Lackmustest erst ab kommendem Jahr. Denn großzügigerweise wurden – in einem Bundestagswahljahr politisch verständlich – die Sonderregelungen zum Kurzarbeitergeld im Sommer 2021 von der schwarz-roten Bundesregierung im Wesentlichen bis Ende des laufenden Jahrs verlängert.
Weder die CDU-CSU-Union noch die Sozialdemokraten mochten mit einer Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Beschäftigungsregeln die Wählerschaft verprellen. Also ist und bleibt man lieber spendabel. So lassen sich Wahlchancen verbessern, anstatt sie mit langfristig nachhaltigen, aber kurzfristig harten wirtschaftspolitischen Forderungen zu gefährden.
Der „Wumms“ hatte seinen Preis. Im Vorkrisenjahr 2019 wies der deutsche Staatshaushalt noch einen Überschuss in der Höhe von 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus. Die Staatsschuldenquote lag unterhalb der magischen Schwelle von 60 Prozent des BIP (magisch deshalb, weil damit die Bedingungen des Maastrichter Vertrags an die Mitglieder der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion erfüllt wurden).
2020 hingegen betrug das öffentliche Defizit 4,2 Prozent des BIP und 2021 dürfte es sogar fünf bis sechs Prozent des BIP erreichen. Entsprechend schnellte der öffentliche Schuldenberg auf eine Höhe von knapp unterhalb 70 Prozent des BIP im letzten Jahr und Ende 2021 werden es noch einmal ein paar Prozentpunkte mehr sein.
Die nicht nur in Deutschland, sondern dem gesamten Euroraum von 85 Prozent des BIP (2019) auf über 100 Prozent des BIP (2021) massiv angestiegenen Staatsschulden wecken Urängste. Gerade hierzulande fürchten viele, dass der Geist der Inflation aus der Flasche entweicht, in die man ihn für alle Zeiten gesperrt glaubte. Denn Inflation war in der Vergangenheit immer schon ein sehr beliebter politischer Zaubertrank, mit dessen Kräften man sich auf einfache Weise hoher Staatsschulden entledigen konnte. Nun dürfte die Versuchung enorm stark sein, erneut auf das politisch bewährte Heilmittel zurückzugreifen – unbesehen seiner enorm kostspieligen ökonomischen Nebenwirkungen.
Die Inflationskarte lässt sich unbesehen des Ausgangs der Bundestagswahlen spielen. Sie bedarf keinerlei parlamentarischer Diskussion oder gar politischer Zustimmung, obwohl sie nichts anderes darstellt als eine „Corona-Sondersteuer“ zur Finanzierung der Kosten der Pandemie(bekämpfung). Dass die Inflationsängste nicht unbegründet sind, zeigt sich an den aktuellen Preisentwicklungen.
Natürlich sind viele Sonder- und auch teilweise Einmaleffekte dafür verantwortlich, dass in Deutschland die Inflationsrate mittlerweile in der Spitze gegen fünf Prozent erreicht – wie es gerade Bundesbank-Präsident Jens Weidmann im Interview mit der WamS andeutete – und übers ganze Jahr 2021 durchschnittlich in der Größenordnung von zweieinhalb Prozent liegen dürfte – wie es die Bundesbank im letzten Monatsbericht voraussagte.
Das ändert jedoch nichts daran, dass für die Bevölkerung mit jedem Preisanstieg ein realer Kaufkraftverlust von Löhnen und Ersparnissen einhergeht. Für den Staatshaushalt jedoch ist damit eine entsprechende reale Entlastung verbunden.
Gleichzeitig mit Inflationssorgen kehrt das böse Wort der Wachstumsschwäche nach Deutschland zurück. Denn dem „Wumms“ zum Trotz bleibt in der Bundesrepublik der konjunkturelle Aufschwung schwächer als andernorts. Für 2021 liegen die Wachstumsprognosen für das deutsche BIP real bei etwa dreieinhalb Prozent – für die USA erreichen sie sechs bis sieben Prozent, für Frankreich sechs Prozent und selbst für das Vereinigte Königreich sind fünf bis sechs Prozent realistisch – Brexit hin oder her.
Die düsteren Aussichten legitimieren die Frage, welche der deutschen Parteien eine überzeugende Strategie verfolgt, um einer keimenden Stagflation den Nährboden zu entziehen? Wer politisch nicht farbenblind ist, erkennt sofort, dass jene Ideologien wie stagflationärer Dünger wirken, die Verbote einerseits und höhere Steuern andererseits propagieren. Denn der Verzicht auf moderne Technologien schwächt das Wirtschaftswachstum und Steuererhöhungen treiben die Inflation.
Wer Stagflation im Keime ersticken will, muss genau das Gegenteil tun: neue Technologien sorgen für dynamische Wirtschaftsentwicklung. Digitalisierung und wirkliche auto Mobilität, Big Data und künstliche Intelligenz ermöglichen es, Verschwendung von Ressourcen zu verhindern, Produktionsprozesse und Verhaltensweise ökologisch zu optimieren und mit weniger Rohstoffen mehr Wohlstand zu schaffen.
Gerade mit Blick auf die globalen Herausforderungen des Klimawandels, der Biodiversität und des Artenschutzes oder der Umweltverschmutzung können Askese und Enthaltsamkeit genauso wenig weiterhelfen, wie einseitige nationale Verteuerungsstrategien.
Da können einzig und allein technischer Fortschritt, Innovation und in allen Lebensbereichen klügere Antworten auf brennende Zukunftsfragen nachhaltig weiterhelfen. So wie Globalisierung über Jahrzehnte für Wirtschaftswachstum sorgte und „Inflation fraß“, kann und muss Digitalisierung zur wichtigsten realwirtschaftlichen Waffe für dynamisches Vorankommen und gegen die Inflationsversuchungen der Politik werden.
Stagflation ist nicht Gott-gegeben. Sie ist Mensch-gemacht. Deutschlands Bevölkerung hat es im Herbst 2021 in der Hand: will man Parteien unterstützen, die Wirtschaftswachstum kritisieren und defensiv das Heil in Verbot und Verzicht suchen. Oder gibt man die Stimme jenen, die offensiv auf neue Technologien setzen und die Neugier und Fantasie, Ideen und Kreativität, Wissen und Können weder für begrenzt und endlich noch ausgeschöpft und zerstörerisch halten?
Wer in Erinnerung an die ökonomisch schwierigen 1970er-Jahre Stagflation für keine gute Wahl hält, dürfte wissen, was zu tun ist. Es gilt, auf eine Bundesregierung zu setzen, die eine Vorwärts-Strategie mit technologischem Fortschritt und damit einhergehendem Wirtschaftswachstum verfolgt und die nicht eine Rückkehr zu Stagnation und Inflation anstrebt.
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