Stand: 26.08.2021 08:06 Uhr
Die Pubs sind voll, der Einzelhandel boomt – die Briten geben wieder kräftig Geld aus, die Wirtschaft wächst stark. Doch gebannt ist die Pandemie noch nicht. Ihre Folgen sind vielerorts spürbar.
Um Punkt 17 Uhr strömen unzählige Mitarbeiter aus den Restaurants in Soho in London. Eilig werden Tische und Stühle rausgetragen und mitten auf die Straße gestellt. Bei manchen folgen Tischdecken und Besteck. Andere markieren ihren Außenbereich mit schicken Absperrbändern. Fünf Minuten dauert das mittlerweile einstudierte Spektakel. Bis ein Uhr morgens ist auf manchen Straßen der Verkehr gestoppt. Sie gehören dann der Gastronomie und den Hungrigen und Durstigen, die rasch an den Tischen Platz nehmen.
Seit die britische Regierung am 19. Juli nahezu alle Corona-Maßnahmen aufgehoben hat, am sogenannten Freiheitstag, bevölkern die Briten wieder zahlreich die Pubs und Restaurants. Der Platz auf der Straße wird gebraucht und von den lokalen Behörden ermöglicht. „Jetzt, wo die Leute wieder Geld ausgeben können, machen sie es vor allem in der Gastronomie und im Einzelhandel. Weit mehr, als wir es erwartet haben“, sagt Peter Arnold, Ökonom bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young.
Nach einem schwachen Jahresbeginn hat sich die britische Wirtschaft im Frühling kräftig erholt.
Düstere Prognosen ließen noch im vergangenen Jahr befürchteten, dass die wirtschaftliche Erholung im Vereinigten Königreich zwei, drei Jahre dauern könnte. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern war die britische Wirtschaft in der Pandemie mit am stärksten eingebrochen – nur Spaniens Bruttoinlandsprodukt schrumpfte 2020 noch deutlicher.
Nun scheint die britische Wirtschaft auf der Erholungs-Überholspur zu sein. Darauf deuten die jüngst veröffentlichten Daten hin. Nach Angaben des nationalen Statistikamtes ist die Wirtschaft im zweiten Quartal um 4,8 Prozent gegenüber dem ersten Quartal gewachsen. Die Erholung kommt damit schneller als ursprünglich prognostiziert, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt immer noch 4,4 Prozent unter dem Vorkrisenniveau liegt.
*Quelle: Schätzung des Internationalen Währungsfonds von Juli 2021
Im Vereinigten Königreich wird noch immer das meiste Geld im Dienstleistungssektor verdient. Für die britische Wirtschaft ist es die Herzkammer, die ihre Schlagzahl in der Pandemie deutlich verringern musste und damit auf der Insel für den stärksten Einbruch der vergangenen 300 Jahre sorgte.
Als die britische Regierung Mitte Juli trotz hoher Corona-Fallzahlen die Restriktionen auflöste, zielte dies auch darauf ab, die Wirtschaft anzukurbeln. Die Briten sollten ihr Geld ausgeben. Denn: Umgerechnet 230 Milliarden Euro haben die britischen Verbraucher während der Pandemie angespart.
Experten sehen für den Rückgang mehrere Gründe – und prophezeien einen erneuten Anstieg.
Die Restriktionen mussten fallen, damit sie es ausgeben können. Laut aktuellen Daten tun sie es auch. Arnold glaubt sogar, dass die britische Wirtschaft Ende des Jahres wieder auf dem Niveau der Vor-Corona-Zeit sein könnte. Vorausgesetzt, es komme nichts dazwischen. Damit meint er die Unsicherheit der Pandemie.
Die britische Regierung setzt darauf, dass das erfolgreiche Impfprogramm weiter Vertrauen schafft. Zwar ist das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, auf der Insel nicht gebannt. Aber schwere Verläufe, die Zahl an Krankenhauseinlieferungen und Todesfälle sind durch den Impfschutz und eine natürliche Immunisierung bei einst Erkrankten stark zurückgegangen.
Die Geschäfte sind wieder voll. „Der Einzelhandel erholt sich ausgesprochen gut“, berichtet Tom Holder vom britischen Einzelhandels-Konsortium. Gekauft würden Kleidung, Möbel oder Elektrogeräte. „Unsere Erwartungen werden übertroffen.“
In Teilen Großbritanniens werden Tausende Menschen per App-Aufforderung in Quarantäne geschickt.
Trotz allgemeinem Optimismus sind aber auch die Herausforderungen für eine weitgehende Erholung der britischen Wirtschaft nicht zu übersehen. Zuletzt flaute die Ausgabenfreude in den Geschäften des Einzelhandels wieder ab. „Temporär“, glaubt Holder. Es ist aber auch ein vorsichtiger Hinweis, dass die britischen Verbraucher ihr Angespartes nicht umgehend mit vollen Händen ausgeben wollen. Wer weiß, was noch kommt?
Täglich erkranken im Schnitt immer noch 30.000 Briten an Covid-19, Tendenz leicht steigend. Die hohen Fallzahlen führen damit vor Augen, dass trotz einer Quote von 75 Prozent vollständig Geimpfter die Pandemie nicht vorbei ist.
Außerdem hemmen die vielen Erkrankten auch die Produktivität. Eine Restaurant-Kette, die sich auf Huhngerichte spezialisiert hat, musste zuletzt Restaurants schließen, weil zu viel Personal bei den Zulieferern erkrankt war und die Hühnerflügel-Produktion stockte. Hinzu kommen die Folgen des Brexit. Die Restaurants blieben auch zu, weil Teile des vorhanden Hühnerfleisches nicht ausgeliefert werden konnten. Auf der Insel gibt es zu wenige Lkw-Fahrer, laut Branchenverband fehlen 90.000, weil vor allem Fahrer aus der EU nach dem Brexit und während der Pandemie in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
Die Brexit-Folgen werden zunehmend sichtbar.
Das führt sowohl in der Lebensmittelindustrie als auch im Einzelhandel zu Lieferengpässen. Zuletzt gab es vereinzelt wieder leere Regale in den Supermärkten. Zurückholen will die britische Regierung die abgewanderten Lkw-Fahrer nicht. Sie setzt darauf, dass britische Arbeitnehmer die Lücke füllen. Das gleiche Problem herrscht in der Fleischindustrie. Zuletzt gab es sogar die Idee, dass Häftlinge einspringen könnten, um den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen – mit temporären Freigängen. Ob es dazu kommt, scheint fraglich.
Insgesamt sind im Vereinigten Königreich etwa eine Million Stellen unbesetzt. Auch das hemmt die wirtschaftliche Erholung. Dafür sinkt die Arbeitslosenquote, auf zuletzt 4,7 Prozent im Juni. Sie könnte wieder leicht steigen, wenn Ende September ein Regierungsprogramm endet, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Entlassungen schützt. Dennoch glaubt Ökonom Arnold, dass auch die Arbeitslosenzahlen danach weiter sinken werden. Die Situation sei komplex, sagt Arnold. Er glaube aber fest an eine starke Erholung der britischen Wirtschaft. Weil für ihn „die positiven Anzeichen überwiegen.“
Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 12. August 2021 um 17:09 Uhr.